Die Gründe für Instabilitäten von Felswänden im Gebirge und für die Auslösung von Sturzprozessen sind komplex und meist multifaktoriell (siehe Factsheet Permafrost 3.3). Vor dem Hintergrund des aktuellen Klimawandels stellen sich Wissenschaftler die Frage, ob die Erwärmung und die Permafrostdegradation stärker zur morphologischen Entwicklung von Felswänden und insbesondere zur Zunahme von Felssturzereignissen in grosser Höhe beitragen.
Um diese Frage zu beantworten, können Inventare von Felsstürzen analysiert werden. Zwischen 1900 und 2007 wurden in den Alpen etwa 35 Ereignisse erfasst, bei denen grosse Felsmengen (von 10’000 bis über 1’000’000 m3) mobilisiert wurden: die Bergstürze/Felsstürze an der Brenva im November 1920 und im Januar 1997, am Fletschhorn im März 1901, am Monte Rosa 1980, an den Dents du Midi im Oktober 2006 oder am Piz Kesch (Graubünden) im Oktober 2014. Für einige symbolträchtige Orte des Alpentourismus, wie das Chamonix-Tal, konnten die Inventare durch Foto-Vergleichsstudien vervollständigt werden. Diese Analysen historischer Daten, die in den Schweizer und französischen Alpen durchgeführt wurden, zeigen insbesondere einen leichten Anstieg der Anzahl der Felsstürze zwischen 1930 und 1950 sowie ab den 1980er- und 1990er-Jahren (Abb. 1).
Bei der Analyse dieser historischen Daten für die Alpen seit 1900 ist jedoch eine gewisse Vorsicht geboten, da Ereignisse mit kleinen Volumina (< 10.000 m3) – weniger spektakulär – in der Regel erst seit den 2000er Jahren erfasst werden. Um die Inventare zu vervollständigen, entwickelten Forschungsinstitute einen partizipativen Ansatz, der insbesondere Bergführer, Hüttenwarte, lokale Behörden und Alpinisten miteinbezieht. Dieses Prinzip der Datenerhebung wird seit 2005 im Mont-Blanc-Massiv angewendet, für das eine Smartphone-Applikation (ALP-RISK, heute OBS-ALP) entwickelt wurde, um Beobachtungen von Instabilitäten zu übermitteln (Abb. 2). Seit 2007 bieten auch das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos und das PERMOS-Netzwerk einen Online-Fragebogen zur Erfassung von Felswandinstabilitäten auf schweizerischem Gebiet an (Abb. 3). Die Einrichtung dieser Beobachtungsnetzwerke hatte zur Folge, dass die Anzahl der in den Datenbanken erfassten Ereignisse im letzten Jahrzehnt gestiegen ist, insbesondere für Ereignisse mit kleinen Volumina (< 10’000 m3) (Abb. 1B).
Zusätzlich zu den Inventaren haben Wissenschaftler seit Anfang der 2000er Jahre mehrere Felswände mit Temperatursensoren ausgestattet, die in etwa 10 cm Tiefe (Abb. 4) oder in Bohrlöchern von mehreren Dutzend Metern Tiefe angebracht wurden, um die Temperaturentwicklung im Fels zu beobachten. In den Nordwänden des Jungfraujochs (Berner Alpen) und der Aiguille du Midi (Chamonix, Mont-Blanc-Massiv) wurde in 10 bis 20 Metern Tiefe seit 2002 ein Anstieg der Permafrosttemperaturen von etwa 0,5°C beobachtet (Abb. 5). Einige Standorte, darunter die Aiguille du Midi, werden auch häufig durch wiederholte terrestrische Laserscans kartiert, um digitale 3D-Geländemodelle zu erstellen (Abb. 6). Damit können morphologische Veränderungen der Felswände sehr genau verfolgt werden.
Die Analysen all dieser Daten scheinen die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen der (oberflächennahen) Permafrostdegradation und der zunehmenden Instabilität von Felswänden im Hochgebirge zu stützen. Sie heben insbesondere hervor:
- Häufiges Auftreten von Eis und/oder Wasser in den Abbruchnischen von Sturzereignissen (Abb. 7).
- Zwischen 2’500 und 3’500 m ü. M., also in Höhenlagen, in denen das Vorkommen von Permafrost wahrscheinlich ist, kam es zu zahlreichen Felsstürzen (Abb. 8). Je nach Exposition scheint dieser Höhenbereich durch temperierten Permafrost gekennzeichnet zu sein.
Ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Anzahl von Felsstürzen mit kleinem Volumen und der Lufttemperatur in den letzten 20 Jahren. Ein Anstieg der Anzahl von Steinschlägen und kleineren Felsstürzen wurde beispielsweise während der Sommermonate (Abb. 9) und insbesondere während der Hitzesommer 2003 und 2015 beobachtet (siehe Factsheet Permafrost 3.6).
Bei grösseren Felsstürzen (> 100’000 m3) besteht kein Zusammenhang zwischen der Jahreszeit und dem Zeitpunkt des Abbruchs. Diese grossen Felsstürze können das ganze Jahr über auftreten (Abb. 9). Dies lässt sich einerseits durch die von der Sommerhitze benötigte Zeit zur Ausbreitung in die Tiefe und andererseits durch die Berücksichtigung von längerfristig wirkenden Instabilitätsfaktoren erklären (siehe Factsheet Permafrost 3.3).
Fig. 1 – Evolution du nombre d’éboulements dans les Alpes depuis 1900. A : évolution de l’écart des températures de l’air en Suisse au-dessus de 1’000 m d’altitude par rapport à la norme 1961-1990. B : nombre d’éboulements de plus de 1’000 m3 basé sur un inventaire historique (adapté de Fischer at al. 2012) ; C : nombre d’éboulements par décennie recensés par photo-comparaison dans la face ouest des Drus et le versant nord des Aiguilles de Chamonix (adapté de Ravanel & Deline 2013).
Abb.1: Entwicklung der Anzahl Felsstürze in den Alpen seit 1900. A: Entwicklung der Abweichung der Lufttemperaturen in der Schweiz oberhalb von 1’000 m ü. M. von der Norm 1961-1990 (klimatische Referenzperiode). B: Anzahl der Felsstürze mit mehr als 1’000 m3 basierend auf historischen Datengrundlagen (angepasst nach Fischer et al. 2012); C: Anzahl der Felsstürze pro Jahrzehnt, die durch Foto-Vergleiche an der Westseite der Drus und der Nordseite der Aiguilles de Chamonix ermittelt wurden (angepasst nach Ravanel & Deline 2013).
Fig. 2 – Présentation de l’application OBS-ALP (source : La Chamoniarde).
Abb.2: Vorstellung der OBS-ALP App (Quelle: La Chamoniarde).
Fig. 3 – Questionnaire en ligne du réseau PERMOS pour signaler des éboulements dans les Alpes suisses (source : PERMOS | SLF, en ligne.
Abb.3: Online-Fragebogen des PERMOS-Netzwerks zur Meldung von Felsstürzen in den Schweizer Alpen (Quelle: PERMOS | SLF, online.
Fig. 4 – Installation de capteurs de température dans la paroi rocheuse du Col de Chassoure (Verbier-Nendaz).
Abb.4: Anbringen von Temperatursensoren in einer Felswand beim Col de Chassoure (Verbier-Nendaz).
Fig. 5 – Evolution des températures à 9.2 et 15.2 mètres de profondeur dans le forage horizontal situé dans la paroi rocheuse nord du Jungfraujoch à 3’590 mètres d’altitude entre le 1er janvier 2010 et le 30 septembre 2018. Même si le pergélisol est « froid » (entre -6 à -5°C), une tendance à un réchauffement moyen de 0.5°C s’observe sur la période de mesure entre 10 et 15 mètres de profondeur (source : PERMOS data portal ).
Abb.5: Temperaturentwicklung in 9.2 und 15.2 Metern Tiefe in einem horizontalen Bohrloch in einer Felswand nördlich des Jungfraujochs auf 3’590 m ü. M. zwischen dem 1. Januar 2010 und dem 30. September 2018. Auch wenn der Permafrost «kalt» ist (zwischen -6 und -5°C), ist über den Messzeitraum in 10 bis 15 Metern Tiefe ein Trend zu einer durchschnittlichen Erwärmung von 0.5°C zu beobachten (Quelle: PERMOS data portal).
Fig. 6 – L’Aiguille du Midi au-dessus de la vallée de Chamonix est un lieu important de la recherche sur le pergélisol des parois rocheuses. Le site à l’avantage d’être facile d’accès grâce aux remontées mécaniques et de présenter toutes les orientations et un sommet culminant à 3’800 m d’altitude.
Abb.6: Die Aiguille du Midi aoberhalb des Chamonix-Tals ist ein wichtiger Standort für die Erforschung des Permafrosts in (steilen) Felswänden. Der Standort hat den Vorteil, dass er dank der Seilbahnen leicht zu erreichen ist, alle Expositionen aufweist und der Gipfel eine Höhe von 3.800 m ü. M. erreicht.
Fig. 7 – Glace visible dans la niche d’arrachement (versant sud du Cervin vers 3800 m d’altitude, août 2003).
Abb.7: Sichtbares Eis in der Abbruchnische eines Felssturzes (Matterhorn-Südhang, ca. 3800 m ü. M., August 2003).
Fig. 8 – Distribution de 165 éboulements de la base de données du SLF pour les Alpes suisses et le massif du Mont-Blanc entre 1714 et 2014, en fonction de l’altitude, de la saison et du volume mobilisé. L’inventaire comprend des données provenant de la base de données StorMe (Office fédéral de l’environnement), de PERMOS et de données collectées par des instituts français dans le massif du Mont-Blanc (source : adpaté de Philipps et al. 2016).
Abb.8: Verteilung der Höhe über Meer, der Jahreszeit und des mobilisierten Volumens von 165 Felsstürzen aus der SLF-Datenbank für die Schweizer Alpen und das Mont-Blanc-Massiv zwischen 1714 und 2014. Das Inventar umfasst Daten aus der StorMe-Datenbank (Bundesamt für Umwelt), von PERMOS und von französischen Instituten (für Daten, die im Mont-Blanc-Massiv gesammelt wurden) (Quelle: angepasst nach Philipps et al. 2016).
Fig. 9 – Distribution saisonnière des éboulements en fonction du volume. Les évènements de petits volumes se produisent majoritairement entre juin et août, alors que les évènements de plus de 10’000 m3 peuvent se dérouler durant toute l’année (source : Fischer at al. 2012).
Abb.9: Saisonale Verteilung von Felsstürzen nach Volumen. Ereignisse mit kleinen Volumina treten mehrheitlich zwischen Juni und August auf, während Ereignisse mit mehr als 10’000 m3 das ganze Jahr über auftreten können (Quelle: Fischer et al. 2012).