3.1. Eigenschaften von Felswänden im Hochgebirge

Felswände sind sehr steile, oft schneefreie Gebiete, deren Wärmehaushalt direkt von der Sonneneinstrahlung und der Lufttemperatur abhängt. Permafrost ist dort ab 2.600 m ü. M. in den Nordwänden und ab 3.200 m ü. M. in den Südwänden vorhanden.

Am 23. August 2017 lösten sich 3.1 Millionen m³ Fels aus der Felswand des Piz Cengalo in Graubünden (siehe Video). Diese Felsmasse stürzte auf einen unterhalb der Felswand gelegenen Gletscher und löste eine Prozessinteraktion (”Kettenreaktion”) aus, die zur Bildung eines zerstörerischen Murgangs für das 6 km talwärts gelegene Dorf Bondo führte. Während der Hitzewelle im Juli 2018 rieten die französischen Behörden Bergsteigern davon ab, den Mont-Blanc zu besteigen, da es vermehrt zu Steinschlag kam. Am Matterhorn stürzte am 24. Juli 2019 ein Felsstück, an dem eine Kette befestigt war, ab und riss einen Bergführer und seinen Kunden in den Tod. Diese jüngsten Ereignisse, die in der regionalen und internationalen Presse Schlagzeilen machten, haben eines gemeinsam: Sie betreffen alle Abbrüche von Felswänden im Hochgebirge, die sich innerhalb der alpinen Permafrostzone befinden (Abb. 1). In diesem Kapitel sollen die geomorphologischen Prozesse, die in diesen steilen Umgebungen ablaufen, detailliert beschrieben werden, wobei der Schwerpunkt auf dem Vorkommen und der Degradation von Permafrost in Felswänden des Hochgebirges liegt.

Felswände zeichnen sich durch eine steile Neigung von mehr als 45° (> 100%) aus. Während weniger steiles Gelände mit einer dicken Schneedecke bedeckt sein kann, ist die fast ständige Abwesenheit von Schnee, selbst im Winter, für diese steilen Umgebungen die Regel (Abb. 2). Wenn der Schnee kalt und pulvrig ist, haftet er nur schwer an der Oberfläche. Im Hochgebirge können die Felswände auch von einem Eispanzer (Wandvergletscherung) oder einem Hängegletscher bedeckt sein (siehe Factsheet Permafrost 3.7).

Das Temperaturregime von Felswänden und generell die Temperaturen innerhalb eines Bergmassivs werden hauptsächlich von zwei Faktoren beeinflusst:

  • Die Sonneneinstrahlung (kurze Wellenlängen) ist der Hauptfaktor für die Erklärung der grossen kleinräumlichen Temperaturunterschiede im (Hoch-)Gebirge. Die Hangausrichtung (Exposition) spielt dabei eine grosse Rolle: Das Temperaturregime unterscheidet sich stark zwischen sonnigen Hängen (südexponierte Hänge in den Alpen) und solchen, die die meiste Zeit im Schatten liegen (nordexponierte Hänge in den Alpen) (Abb. 3). Auf der Aiguille du Midi (Mont-Blanc-Massiv) wurden auf gleicher Höhe zwischen Felsoberflächen der Süd- und der Nordseite Temperaturunterschiede von 8 °C gemessen. Von den sonnigen zu den schattigen Hängen stellt sich ein (horizontaler) Wärmefluss durch Konduktion Dieser bestimmt unter anderem die Dicke des Permafrosts innerhalb eines Bergmassivs (Abb. 3). Der geothermische Wärmefluss spielt hierbei nur eine vernachlässigbare Rolle. Aufgrund der unterschiedlichen Formen der Felsgrate und manchmal auch aufgrund von Gletschern sind die Temperaturverhältnisse im Inneren eines Bergmassivs oft viel komplexer als das in Abbildung 3 dargestellt ist.
  • So hängen die Temperaturverhältnisse auf und in Felswänden auch stark mit Schwankungen der Lufttemperatur Bei fehlender Sonneneinstrahlung geht man nämlich davon aus, dass sich die Oberflächentemperatur der Felswände (ohne Schwankungen der thermischen Bodeneigenschaften, siehe Factsheet Permafrost 1.4) der Lufttemperatur annähert.

Das nahezu permanente Fehlen von Schnee in steilen Felswänden impliziert eine direkte Interaktion zwischen der Atmosphäre, der Felsoberfläche und des Gesteinsuntergrunds. Infolgedessen liegt die Untergrenze der Permafrostverbreitung in steilen Felsgebieten höher als in flachem Gelände. In den Alpen kommt Permafrost in steilen Felswänden ab einer Höhe von 2.600 m ü. M. an nordexponierten Hängen und ab 3.600 m ü. M. an südexponierten Hängen vor. In einigen sehr günstigen Bereichen (ständige Beschattung, starke Zerklüftung, welche Kaltluftadvektion in den Fels ermöglicht) kann sporadischer Permafrost bereits ab 1’900 m ü. M. (Nordexpositionen) resp. ab 2’400 m ü. M. (Südexpositionen) vorkommen.