Gletschergefahren entstehen nicht nur durch Surges und Eislawinen, sondern auch durch die Entleerung von Gletscherseen und glazialen Wassertaschen, die Hochwasser mit katastrophalen Auswirkungen verursachen können.
In Bezug auf die Lage des Gletschers kann man vier Kategorien von Schmelzwasseransammlungen definieren: Proglaziale Seen befinden sich unterhalb der Gletscherzunge und werden oft durch eine Moräne gestaut (Beispiel Mont Miné- und Miage-Gletscher) (Abb. 1), randglaziale Seen befinden sich am Gletscherrand, häufig zwischen diesem und seinen Seitenmoränen oder angrenzenden Felswänden (Beispiel Märjelensee, Aletschgletscher) (Abb. 2 & 3), intra- und subglaziale Wassertaschen entstehen im Inneren des Gletschers oder an seiner Basis durch das Auffüllen von Gletschermühlen oder subglazialen Kanälen mit blockiertem Abfluss (Beispiel: Tine de Trient), und supraglaziale Seen bilden sich an der Gletscheroberfläche (Beispiel Unterer Grindelwaldgletscher) (Abb. 4) oder durch durch das Zusammenfliessen zweier Gletscher (Beispiel: Gornersee) (Abb. 5).
Auf Englisch wird die plötzliche Entleerung eines Gletschersees als Glacial lake outburst flood (GLOF) bezeichnet. Sie kommen in allen Teilen der Welt vor. Ihre Unvorhersehbarkeit, die gewaltigen Wassermassen und erosiven Strömungskräfte, welche Material in Flussbetten und Talböden über weite Strecken umlagern können, machen sie zu gefürchteten Naturgefahren. Die Bedeutung dieses Phänomens hat durch den Bevölkerungszuwachs in Berggebieten und die wachsende Anzahl Gletscherseen, die durch den Rückzug der Gletscher entstehen, zugenommen. Aus diesem Grund werden, beispielsweise im Himalaya oder in den Anden, immer mehr Studien zu diesem Phänomen durgeführt, und immer mehr Seen werden überwacht.
In der Schweiz ist der Giétro-Gletscherseeausbruch (siehe Factsheet Gletscher 6.2) ein bekanntes Beispiel, ebenso wie der Lac des Faverges (Plaine-Morte-Gletscher) oder der Märjelensee. In der Vergangenheit bildete sich der Märjelensee regelmässig am Rand des Aletschgletschers und entleerte sich plötzlich, wodurch die Massa und die Rhone rasch anstiegen (Abb. 6). Zwischen 1813 und 1913 verursachte dieser See 38 katastrophale Hochwasser. Der Rückzug des Aletschgletschers hat die Gefährlichkeit des Märjelensees verringert, der letzte grössere Ausbruch erfolgte 1931.
Angesichts der Gefahr einer plötzlichen Entleerung (Abb. 7) werden einige Seen überwacht und künstlich entleert. So wurde die 60.000 m³ grosse, unter Druck stehende Wassertasche des Tête-Rousse-Gletschers (3800 m ü. M.) bei Saint-Gervais in Hochsavoyen seit 2010 mehrmals abgepumpt, um das Volumen zu verringern und mögliche Schäden im Falle eines Ausbruchs zu reduzieren. Auch der supraglaziale See des Unteren Grindelwaldgletschers wurde überwacht (Abb. 8 & 9). Um grössere Überschwemmungen aufgrund eines Ausbruchs des jährlich wachsenden Sees zu verhindern, wurde 2009 ein 2 km langer Drainagetunnel gebaut (Abb. 10). Er ermöglichte einen gleichmässigeren Abfluss und begrenzte das Volumen des Sees auf 120.000 m³ (im Vergleich zu 2,5 Mio. m³ vor den Bauarbeiten).
Ein Sonderfall der Entleerung von subglazialen Schmelzwasseransammlungen ist der Jökulhlaup, ein isländischer Begriff für Gletscherseeausbruch. Jökulhlaups werden durch erhöhte geothermische Wärmeflüsse oder einen subglazialen Vulkanausbruch verursacht, was zur Ansammlung von viel Schmelzwasser am Gletscherbett und der Entstehung eines subglazialen Sees führt. Dieser kann sich plötzlich entleeren und so grosse Mengen Wasser freisetzen. Während des Jökulhlaups vom 5. bis 8. November 1996, der durch Vulkanausbrüche am Grimsvötn unter der Eiskappe des Vatnajökull verursacht wurde, entleerten sich 3 km³ Wasser in einer Flut, die einen Spitzenabfluss von 45.000 m³/s erreichte (ein höherer Abfluss als derjenige des Mississippi). Die Wassermassen, mehrere hundert Tonnen schwere Eisblöcke vom Gletscher sowie die vom Wasser mitgeführten Schuttmassen rissen 10 km der isländischen Ringstrasse mitsamt Brücken weg und beschädigten weitere 10 km der Strasse. Im Jahr 2010 verursachte der Eyjafjöll-Vulkanausbruch zwischen dem 13. und 15. April mehrere Jökulhlaups mit Abflüssen zwischen 2000 und 3000 m³/s.
Abb. 1: Vorfeld des Mont Miné-Gletschers
Abb. 1: Vorfeld des Mont Miné-Gletschers (Val d’Hérens, VS) im Sommer 2014.
Abb. 2: Randglazialer See beim Mirage-Gletscher
Abb. 2: Randglazialer See beim Miage-Gletscher im Jahr 1997 (Val Veni, Mont-Blanc Massiv, Italien).
Abb. 3: Randglaziale Wasseransammlungen
Abb. 3: Randglaziale Wasseransammlungen zwischen dem Aletschgletscher (VS) und seinen Seitenmoränen im Juli 1992.
Abb. 4: Der supraglaziale See beim Grindelwaldgletscher
Abb. 4: Der supraglaziale See beim Unteren Grindelwaldgletscher im Jahr 2009.
Abb. 5: Der Gornersee
Abb. 5: Der Gornerseebeim Zusammenfluss von Gorner-, Monte-Rosa- (oberhalb des Sees) und Grenzgletscher (rechts) im Sommer 2003 (Mattertal, VS).
Abb. 6: Längenänderungen des Aletschgletschers
Abb. 6: Längenänderungen des Aletschgletschers (VS) und Daten der letzten katastrophalen Entleerungen des Märjelensees. Siehe interaktive Grafik.
Abb. 8: Supraglazialer See beim Unteren Grindelwaldgletscher
Abb. 8: Supraglazialer See beim Unteren Grindelwaldgletscher. Hinter der Toteismasse, die durch Schuttablagerungen der abgestürzten Schlossplatte vor der Sonneneinstrahlung geschützt ist, hinterliess der sich zurückziehende Gletscher eine supraglaziale Mulde, die keinen Abfluss hatte. Seit 2005 bildete sich im Frühjahr während der Schneeschmelze ein supraglazialer See, dessen Volumen von Jahr zu Jahr zunahm. Im Sommer entleerte sich der See jeweils abrupt, wenn das Wasser aus dem See einen Weg durch das darunterliegende Eis fand. Aufgrund der grossen Schäden, die in Grindelwald Grund entstehen konnten, wurde dieser See ständig überwacht und 2009 wurde ein Entwässerungsstollen gebaut (weitere Infos).
Abb. 9: Arbeiten für den Bau eines Entwässerungsstollens
Abb. 9: Arbeiten für den Bau eines Entwässerungsstollens des supraglazialen Sees beim Unteren Grindelwaldgletscher.
Abb. 10: Blick in einen Entwässerungsstollen
Abb. 10: Entwässerungsstollen für den supraglazialen See beim Unteren Grindelwaldgletscher.