4.1 Die Eiszeittheorie: Geschichte in Kürze

Die Eiszeittheorie wurde zwischen 1840 und 1841 wissenschaftlich formuliert. Dabei handelt es sich um eine auf Feldbeobachtungen basierende Theorie, die besagt, dass Gletscher in der Vergangenheit größere Ausdehnungen hatten als heute.

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Der Bauer Jean-Pierre Perraudin (1767-1858) (Abb. 1) aus Lourtier im Val de Bagnes (Wallis) war neben dem schottischen Geologen James Hutton (1726-1795) einer der ersten, der die Hypothese aufstellte, dass erratische Blöcke (Findlinge) von Gletschern transportiert sein worden mussten. Er erläuterte seine Theorie Besuchern des Val de Bagnes, darunter 1815 Jean de Charpentier (1786-1855), der zu dieser Zeit Direktor der Salinen von Bex war. Perraudins bescheidene Lebensumstände hinderten ihn nicht daran, bemerkenswerte Beobachtungen zu machen; anhand der Beobachtung von Gletscherschrammen stellte er die Hypothese auf, dass der Gletscher des Val de Bagnes früher mindestens bis nach Martigny gereicht haben muss.

Im Jahr 1818 führte er Gespräche zu diesem Thema mit Ignaz Venetz (1788-1859) (Abb. 1), dem Walliser Staatsingenieur, der mit der Leitung der Arbeiten zur Entleerung des Sees beauftragt war, der sich durch die natürliche Talsperre in Form eines Eisdamms unterhalb des Giétro-Gletschers gebildet hatte. Durch die von Venetz ergriffenen Massnahmen konnte das Risiko, das vom See ausging, zwar verringert, die Katastrophe aber nicht vollständig verhindert werden: Am 16. Juni 1818 führte die plötzliche Entleerung des Sees zu einer Flutwelle, die das gesamte Val de Bagnes verwüstete (siehe Factsheet Gletscher 6.2). Trotzdem setzte Venetz seine Gletscherbeobachtungen fort, die ihn dazu führten, dass er 1829 anlässlich einer Tagung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft (SNG) auf dem Grossen St. Bernhard eine Theorie vorstellte, wonach sich die Alpengletscher bis in den Jura ausgedehnt hätten. Seine Argumentation stiess auf allgemeine Missbilligung. Denn seine Theorie stand in völligem Widerspruch zur damals allgemein anerkannten Annahme, dass sich die Erde seit ihrer Entstehung nur abgekühlt hat. Der biblische Glaube wurde zu dieser Zeit noch weitgehend von der wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilt. Diese versuchte, die Genesis (biblische Entstehungsgeschichte) mit den Beobachtungen vor Ort in Einklang zu bringen. Die Existenz der Findlinge war auch anderen Wissenschaftlern der damaligen Zeit nicht entgangen, doch diese hatten andere Erklärungsansätze vorgeschlagen (Eisschollen, Vulkanausbrüche, Sintflut), die uns heute eher phantastisch erscheinen.

Ignaz Venetz gelang es dennoch, Jean de Charpentier zu überzeugen, ein Verfechter der Eiszeittheorie zu werden. Jean de Charpentier (Abb. 1) begann daraufhin mit der Erforschung der Findlinge im Rhonetal, wo er die riesigen Exemplare in der Gegend von Monthey und Bex untersuchte (Abb. 2 & 3). Die Eiszeittheorie wurde immer weiter verfeinert, fand aber unter den Naturforschern der damaligen Zeit nur wenige Anhänger. Einer von ihnen, Louis Agassiz (1807-1873) (Abb. 1), liess sich von de Charpentier überzeugen und startete ein neues Gletscherbeobachtungsprogramm. Am 24. Juli 1837, anlässlich einer Sitzung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, empörte Agassiz, der eigentlich einen Vortrag über fossile Fische hätte halten sollen, das Publikum mit seiner berühmten Rede über die Gletscher. Die Proteste waren allgemeiner Natur, aber trotz der breiten Ablehnung durch andere Naturforscher hatte die Rede ein allmähliches Umdenken in wissenschaftlichen Kreisen zur Folge, und die Eiszeittheorie setzte sich schliesslich zwischen 1840 und 1841 durch.