5.2 Gletscherarchäologie

Die Entdeckung archäologischer Überreste auf den vom Eis freigegebenen Pässen liefert wichtige Informationen sowohl über die Geschichte der Besiedlung der grossen Alpentäler als auch über die Ausdehnung der Gletscher in der Vergangenheit.

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Die Besiedlung der grossen Alpentäler wie des Wallis erfolgte nach dem Ende der letzten grossen Eiszeit, ab etwa 12.000 Jahren vor heute. Ab 15’000 Jahren vor heute war das Walliser Eisstromnetz bereits weitgehend in einzelne Gletscher in den Seitentälern zerfallen. Die Rhoneebene war jedoch wahrscheinlich aufgrund der hohen geomorphologischen Dynamik und Aktivität der Wildbäche und Gebirgsflüsse in deren Einzugsgebiet bis ins Holozän nicht bewohnbar. Die ersten Spuren menschlicher Siedlungen im Wallis werden von Archäologen dem Präboreal (Felsunterstand von Vionnaz, datiert auf ca. 7’500 bis 8’500 v. Chr.) zugeschrieben (Abb. 1). Hoch gelegene Unterstände, wie oberhalb von Zermatt auf 2600 m ü. M. entdeckt, führten zur Erkenntnis, dass die Besiedlung des Rhonetals nicht nur über das Genferseebecken, sondern auch über die Pässe erfolgte. Die bekanntesten sind der Col d’Hérens zwischen dem Val d’Hérens und dem Mattertal, der Theodulpass, der von Zermatt nach Cervinia führt, der Col Collon zwischen dem Val d’Hérens und dem Aostatal, und das Fenêtre-de-Durand, das das obere Val de Bagnes mit dem Valpelline (Aostatal) verbindet. Die Begehbarkeit der Pässe während des Holozäns hing mit der Ausdehnung der verschiedenen Gletscher zusammen.

Im September 1991 kam es zu einer in diesem Zusammenhang wichtigen Entdeckung: Während eines Ausflugs in die Similaun-Region in Südtirol (Italien) entdeckten zwei deutsche Touristen den mumifizierten Körper eines Mannes, der neben dem Hauslabjoch auf einer Höhe von über 3200 m ü. M. halb im Eis eingefroren war. Später stellte sich heraus, dass der Mann mit Spitznamen Ötzi am Ende des Neolithikums, während der Bronzezeit, gelebt hatte. Massenbeschleunigungsdatierungen mit Kohlenstoff-14 weisen der Mumie ein Alter von 4550 ± 20 14C BP (= 5320-5270 / 5190-5060 cal BP) zu (Abb. 2), das in die Warmzeit 4, die längste des Holozäns (siehe Factsheet Gletscher 4.5), fällt. Zu dieser Zeit muss das Hauslabjoch also begehbar gewesen sein.

Ein weiterer wichtiger Fund wurde im Herbst 2003 in der Schweiz gemacht. Der Schwund eines namenlosen Eisfeldes auf 2800 m ü. M. zwischen dem Wildhorngletscher und dem Schnidejoch ( Pass, der das Wallis mit dem Berner Oberland verbindet) brachte zahlreiche Artefakte aus prähistorischer und frühgeschichtlicher Zeit ans Tageslicht. Die Datierung der durch Eis und Schnee konservierten organischen Überreste ermöglichte es, die Zeiträume zu bestimmen, in denen Menschen den Pass überqueren konnten: Neolithikum und Bronzezeit (hauptsächlich zwischen dem 3. Jahrtausend v. Chr. und 1750 v. Chr.), Römerzeit (von 15 v. Chr. bis 400 n. Chr.) und Spätmittelalter (hauptsächlich zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert).

Es gibt noch mehr solche Funde in der Schweiz. Zwischen 1984 und den frühen 1990er Jahren wurden die verstreuten Knochen des «Söldners» vom Theodulpass mitsamt seiner Ausrüstung, die neben Waffen auch seltene Gegenstände des täglichen Lebens umfasste, vom Eis befreit: eine Taschenpistole, ein zusammenklappbares Rasiermesser, ein Schuh unbekannter Form und Münzen aus den Jahren 1578 und 1588. Die gefundenen Gegenstände und die an ihnen durchgeführten Analysen ergaben, dass der Mann um 1600 beim Überqueren des 3296 m hohen Passes gestorben ist.

Im selben Zeitraum (1988-1992) weisen archäologische Überreste im Albulagebiet auf ein ähnliches Schicksal hin: «Porchabella«, eine Frau im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, starb wahrscheinlich im 17. Jahrhundert auf 2680 m ü. M. am Fusse des Piz Kesch. Zu den Fundstücken gehören menschliche Überreste sowie Kleidung (Wollmantel, Filzhut, Bluse und Lederschuhe) und verschiedene Holzgegenstände (Schüssel, Löffel, Kamm und Rosenkranz).

Anhand dieser Beispiele können wir sehen, wie glaziologische Studien der Paläogeographie zusammen mit archäologischen Untersuchungen   die Orte hervorheben kann, durch die die Besiedlung der Alpentäler stattfand.

Vor wenigen Jahren (2017) wurden die Überreste eines Walliser Paares geborgen, das 75 Jahre lang im Diablerets-Massiv vermisst wurde. Das Paar, das am 15. August 1942 in Chandolin (Savièse, VS) losgegangen war, kam bei der Überquerung des Tsanfleuron-Gletschers ums Leben. Mit der anhaltenden Gletscherschmelze – die Schweizer Gletscher haben in den letzten 10 Jahren ein Fünftel ihres Volumens verloren – werden immer wieder Gegenstände von kulturhistorischem Wert freigegeben. Da es unmöglich ist, alle Gletscher auf der Suche nach archäologischen Überresten systematisch zu begehen, ist es wichtig, dass Wanderer, Skifahrer oder Bergsteiger ihre Funde den kantonalen Archäologieämtern melden, damit diese unter optimalen Bedingungen geborgen und konserviert werden können.