5.4 Gletscher und Tourismus: Akteur:innen alpiner Landschaften

Gletscher üben eine starke Anziehungskraft auf Touristen aus. Sie kommen in Scharen, um Gletscher zu sehen und zu berühren, auf ihren Hängen Ski zu fahren oder einfach nur die alpine Landschaft zu bewundern. Der allgemeine Trend der schwindenden Alpengletscher bleibt nicht ohne Folgen für die Landschaft und den Tourismus.

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Ob für den sanften Tourismus, zum Sommerskifahren oder als Wahrzeichen der alpinen Landschaft – Gletscher sind eine der wichtigsten Ressourcen für den Tourismus in der Schweiz. Seit dem 18. Jahrhundert locken sie Touristen an und in ihrer unmittelbaren Nähe wurden einige der ersten Hotels der Schweiz errichtet (vgl. Factsheet Gletscher 5.1). Es ist kein Zufall, dass die Kantone Graubünden und Wallis zu den meistbesuchten Tourismusregionen des Landes gehören. Gletscher sind die Hauptattraktion vieler Touristenorte. Im Jahr 2017 erreichten 425’000 Personen das Matterhorn Glacier Paradise auf 3’883 Metern ü. M. oberhalb von Zermatt, und das Jungfraujoch, der höchste mit dem öV erreichbare Punkt des  UNESCO-Welterbes Swiss Alps Jungfrau-Aletsch, wurde im selben Jahr von 1.04 Mio. Personen besucht.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Gletscher hängt auch mit dem Wintersport zusammen. Denn sie ermöglichen es, die Folgen schlechter Schneeverhältnisse abzuschwächen und die Skisaison manchmal bis in den Hochsommer zu verlängern. In den 1980er Jahren ermöglichten Anlagen auf den Gletschern von Saas Fee, Klein Matterhorn (Zermatt), Plaine Morte, Tortin (Mont-Fort, Abb. 2) und Tsanfleuron (Diablerets) das Skifahren im Sommer (Abb. 1). Derzeit (2020er Jahre) ist Sommerskifahren nur noch in Zermatt und Saas Fee möglich. Um der Gletscherschmelze entgegenzuwirken und Eis und Schnee für das Skifahren im Winter zu erhalten, verwenden einige Skigebiete Textilplanen aus weissem Vlies. 2005 war der Gurschenfirn (UR) am Nordhang des Gemsstocks (2.961 m) im Gebiet der heutigen Skiarena Andermatt-Sedrun der erste Gletscher in der Schweiz, auf dem kleinere Flächen mit solcher Schutzfolie abgedeckt wurden (Abb. 4). In der Folge wurden weitere Pisten auf Gletschern auf die gleiche Weise geschützt: Vorabgletscher in Flims/Laax (GR), Milibachgletscher in der Region Lauchernalp/Lötschental (VS), Längfluhgletscher oberhalb von Saas Fee (VS), Glacier de Tortin in Verbier (VS), Titlisgletscher (OW). Seit 2017 experimentieren Wissenschaftler mit einem neuen Ansatz: Sie wollen Gletscher mithilfe künstlicher Beschneiung vor der Sonne und heissen Temperaturen schützen. Testprojekte laufen auf dem Morteratsch-Gletscher (GR) und auf dem Titlisgletscher (OW).

Die globale Erwärmung hat auch Auswirkungen auf das Bergsteigen im Sommer. Zum einen ist die alpine Landschaft durch den Rückzug der Gletscher drastischen Veränderungen unterworfen (Abb. 5, 6, 7). Die von den Gletschern freigegebenen Flächen sind vor allem durch Lockergesteine und Fels gekennzeichnet, bevor die Vegetation die neuen Flächen nach und nach besiedelt. Die Intensivierung  von Verwitterungsprozessen (insbesondere Frostsprengung) sowie die Destabilisierung von Felswänden durch Gletscherschwund und Permafrostdegradation führt dazu, dass die Gletscherflächen zusätzlich – zumindest scheinbar – schrumpfen, da viele Gletscher zunehmend mit Schutt bedeckt sind. Der Miage-Gletscher (Aostatal, Italien), dessen Schuttbedeckung in den letzten 150 Jahren stark angewachsen ist, ist ein gutes Beispiel dafür (Abb. 8 und 9). Das bei Touristen beliebte Bild einer Alpenlandschaft, die aus Bergen und Gletschern besteht, ändert sich also langsam. Die Auswirkungen dieses Wandels auf die Attraktivität von Tourismusorten im Berggebiet sind derzeit nur schwer abzuschätzen.

Andererseits führt die Destabilisierung von Felswänden, Blockgletschern und Moränen zu einer Erhöhung des Risikos durch Stein- und Blockschlag (vgl. Kapitel 3 Permafrost und Factsheet Permafrost 4.6). Auf bestimmten Abschnitten von Wanderwegen kann das Risiko zeitweise erhöht sein oder eine vorübergehende oder dauerhafte Sperrung erfordern. Zwischen 2006 und 2009 lösten sich etwa 2 Mio. m³ Fels aufgrund der Destabilisierung einer Felswand, die durch den Rückzug des Unteren Grindelwaldgletschers (BE) freigesetzt wurde. Der Weg zur Bäregg (Bäregghütte) wurde zunächst gesperrt und verschwand nach dem Einsturz der Schlossplatte vollständig.

Schliesslich kann der beschleunigte Rückzug der Gletscher auch zu einer plötzlichen Entleerung von proglazialen oder supraglazialen Seen führen (siehe Factsheet Gletscher 6.3). Um spontane Entleerungen zu verhindern, die nicht nur Wanderer, sondern vor allem die Bevölkerung und Infrastruktur im Tal hätten gefährden können, wurden an mehreren Seen präventive Entleerungsarbeiten durchgeführt, darunter am Lac d’Arsine (Französische Alpen, Pelvoux-Massiv, 1985-1986), am Belvedere-Gletscher (Italien, Monte Rosa, 2001-2002), am Lac de Rochemelon (Italienische Alpen, Massif des Alpes Grées, 2004-2005), beim supraglazialen See beim Unteren Grindelwaldgletscher (Berner Oberland, 2009-2010) und aufgrund der Wassertasche des Tête-Rousse-Gletschers (französische Alpen, Mont-Blanc-Massiv, Sommer 2010).