6.2 Gletscherseeausbrüche und Eislawinen

Am 16. Juni 1818 führte der Bruch eines Eisdamms zu einer Flutwelle zwischen Mauvoisin und Martigny.

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Die letzte kühlere Phase innerhalb der Kleinen Eiszeit begann in den südwestlichen Schweizer Alpen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und führte zu einem markanten Massenzuwachs der Gletscher. Diese Periode ist durch einen allgemeinen Vorstoss der Schweizer Gletscher gekennzeichnet (siehe Factsheet Gletscher 4.6). Zu den klimatischen Ursachen kamen die Auswirkungen des Ausbruchs des Tambora-Vulkans in Indonesien im Jahr 1815 hinzu, der das Weltklima beeinflusste, insbesondere im Jahr 1816, das in Europa als «Jahr ohne Sommer» bezeichnet wurde.

Der Giétro-Gletscher war im oberen Val de Bagnes bereits für seine Eislawinen bekannt, die mit dem Abbrechen von Séracs an seiner steilen, östlich des heutigen Lac de Mauvoisin gelegenen Gletscherfront zusammenhingen (Abb. 1). Der regenerierte Gletscher, der sich im Talboden durch diese Eisabbrüche im frühen 19. Jahrhundert bildete, versperrte das Tal vollständig; sein Volumen wird auf 10 Millionen m³ geschätzt. Der See, der sich hinter dem Eisdamm bildete (35 Millionen m³ Wasser, bei einer Länge von 3,5 km und einer Tiefe von 60 m), begann die Bewohner des Tals zu beunruhigen. Um den Wasserdruck zu verringern, ordnete Ignaz Venetz, der Staatsingenieur des Wallis, an, einen Tunnel in die Eismasse zu bohren und den Seespiegel so künstlich zu senken. Die Arbeiten bewirkten, dass ein Teil des Wassers abfloss, der Seespiegel sank und die Masse des grossen Eisdamms abnahm. Trotz aller Bemühungen gelang es Venetz nicht, die Katastrophe abzuwenden: Durch die Erosion des Eisdamms und das unter Druck stehende Wasser brach der Damm. Am 16. Juni 1818, um 16.30 Uhr, ergossen sich innerhalb von eineinhalb Stunden 20 Millionen m³ Wasser in das Val de Bagnes, zerstörten Hunderte Häuser und Infrastruktur und forderten von Mauvoisin bis Martigny 34 Todesopfer (Abb. 2).

Diese Katastrophen, welche durch die direkte (Eislawine) oder indirekte (Gletscherseeausbruch) Wirkung von herabstürzenden Eismassen verursacht wurden, waren in den Walliser Seitentälern relativ häufig. Bereits 1595 verursachte der Giétro-Gletscher aufgrund eines Seeausbruchs 140 Tote und über 500 zerstörte Häuser im Val de Bagnes (Abb. 3). Erwähnenswert sind die 81 Toten und die Zerstörung des Dorfes An der Eggen durch eine Eislawine des Hohmatten-Gletschers im Simplongebiet im Jahr 1597, sowie die Eislawinen des Bisgletschers im Mattertal, die das Dorf Randa 1636 (37 Tote), 1720 (12 Tote), 1737 (140 zerstörte Gebäude) und 1819 (2 Tote) trafen. Weniger lange zurück liegt die Katastrophe von Mattmark, bei der ein Gletscherabbruch am Allalin-Gletscher im Saastal 1965 die Baustelle des Mattmark-Staudamms verschüttete und 88 Männern das Leben kostete (Abb. 4).