6.3 Entleerung von Gletscherseen und Wassertaschen

Gletscher-Schmelzwasser fliesst nicht immer ruhig ab. Gletscherseen und glaziale Wassertaschen, welche sich plötzlich entleeren, können sich im Gletschervorfeld, auf dem Gletscher, an dessen Rändern oder am Gletscherbett bilden.

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Gletschergefahren entstehen nicht nur durch Surges und Eislawinen, sondern auch durch die Entleerung von Gletscherseen und glazialen Wassertaschen, die Hochwasser mit katastrophalen Auswirkungen verursachen können.

In Bezug auf die Lage des Gletschers kann man vier Kategorien von Schmelzwasseransammlungen definieren: Proglaziale Seen befinden sich unterhalb der Gletscherzunge und werden oft durch eine Moräne gestaut (Beispiel Mont Miné- und Miage-Gletscher) (Abb. 1), randglaziale Seen befinden sich am Gletscherrand, häufig zwischen diesem und seinen Seitenmoränen oder angrenzenden Felswänden (Beispiel Märjelensee, Aletschgletscher) (Abb. 2 & 3), intra- und subglaziale Wassertaschen entstehen im Inneren des Gletschers oder an seiner Basis durch das Auffüllen von Gletschermühlen oder subglazialen Kanälen mit blockiertem Abfluss (Beispiel: Tine de Trient), und supraglaziale Seen bilden sich an der Gletscheroberfläche (Beispiel Unterer Grindelwaldgletscher) (Abb. 4) oder durch die Verbindung zweier Gletscher (Beispiel: Gornersee) (Abb. 5).

Auf Englisch wird die plötzliche Entleerung eines Gletschersees als Glacial lake outburst flood (GLOF) bezeichnet. Sie kommen in allen Teilen der Welt vor. Ihre Unvorhersehbarkeit, die gewaltigen Wassermassen und erosiven Strömungskräfte, welche Material in Flussbetten und Talböden über weite Strecken umlagern können, machen sie zu gefürchteten Naturgefahren. Die Bedeutung dieses Phänomens hat durch den Bevölkerungszuwachs in Berggebieten und die wachsende Anzahl Gletscherseen, die durch den Rückzug der Gletscher entstehen, zugenommen. Aus diesem Grund werden, beispielsweise im Himalaya oder in den Anden, immer mehr Studien zu diesem Phänomen durgeführt, und immer mehr Seen werden überwacht.

In der Schweiz ist der Giétro-Gletscherseeausbruch (siehe Factsheet Gletscher 6.2) ein bekanntes Beispiel, ebenso wie der Lac des Faverges (Plaine-Morte-Gletscher) oder der Märjelensee. In der Vergangenheit bildete sich der Märjelensee regelmässig am Rand des Aletschgletschers und entleerte sich plötzlich, wodurch die Massa und die Rhone rasch anstiegen (Abb. 6). Zwischen 1813 und 1913 verursachte dieser See 38 katastrophale Hochwasser. Der Rückzug des Aletschgletschers hat die Gefährlichkeit des Märjelensees verringert, der letzte grössere Ausbruch erfolgte 1931.

Angesichts der Gefahr einer plötzlichen Entleerung (Abb. 7) werden einige Seen überwacht und künstlich entleert. So wurde die 60.000 m3 grosse, unter Druck stehende Wassertasche des Tête-Rousse-Gletschers (3800 m ü. M.) bei Saint-Gervais in Hochsavoyen seit 2010 mehrmals abgepumpt, um das Volumen zu verringern und mögliche Schäden im Falle eines Ausbruchs zu reduzieren. Auch der supraglaziale See des Unteren Grindelwaldgletschers wurde  überwacht (Abb. 8 & 9). Um grössere Überschwemmungen aufgrund eines Ausbruchs des jährlich wachsenden Sees zu verhindern, wurde 2009 ein 2 km langer Drainagetunnel gebaut (Abb. 10). Er ermöglichte einen gleichmässigeren Abfluss und begrenzte das Volumen des Sees auf 120.000 m³ (im Vergleich zu 2,5 Mio. m³ vor den Bauarbeiten).

Ein Sonderfall der Entleerung von subglazialen Schmelzwasseransammlungen ist der Jökulhlaup, ein isländischer Begriff für Gletscherlauf. Jökulhlaups werden durch erhöhte geothermische Wärmeflüsse oder einen subglazialen Vulkanausbruch verursacht, was zur Ansammlung von viel Schmelzwasser am Gletscherbett und der Entstehung eines subglazialen Sees führt. Dieser kann sich plötzlich entleeren und so grosse Mengen Wasser freisetzen. Während des Jökulhlaups vom 5. bis 8. November 1996, der durch Vulkanausbrüche am Grimsvötn unter der Eiskappe des Vatnajökull verursacht wurde, entleerten sich 3 km³ Wasser in einer Flut, die einen Spitzenabfluss von 45.000 m³/s erreichte (ein höherer Abfluss als derjenige des Mississippi). Die Wassermassen, mehrere hundert Tonnen schwere Eisblöcke vom Gletscher sowie die vom Wasser mitgeführten Schuttmassen rissen 10 km der isländischen Ringstrasse mitsamt Brücken weg und beschädigten weitere 10 km der Strasse. Im Jahr 2010 verursachte der Eyjafjöll-Vulkanausbruch zwischen dem 13. und 15. April mehrere Jökulhlaups mit Abflüssen zwischen 2000 und 3000 m³/s.